Erwin Rüddel: Kulturelles Erbe, gewachsene Tradition, eigene Identität, Familie und Heimat – kann das alles wirklich weg?
Es war auf den ersten Blick nur eine Begebenheit am Rande, die mich jüngst sehr nachdenklich gemacht hat: Ich meine die Reise der beiden grünen Amtsträgerinnen Baerbock und Roth nach Nigeria, bei der sie einige Benin-Bronzen aus hiesigen Museen überbrachten.
Am Ziel der (mit großem „CO2-Fußabdruck“ verbundenen) Reise erklärte Frau Baerbock, die Rückgabe der Bronzen sei wichtig für die Menschen in Nigeria, „weil es nicht nur Kunststücke (!) sind, nicht nur kulturelles Erbe, sondern auch ein Stück von (!) Identität“.
Sie sprach ferner von den Opfern „kolonialer Grausamkeiten“ und einer „Geschichte des europäischen Kolonialismus“, in der „unser Land eine dunkle Rolle spielte“.
Frau Roth sekundierte mit der Bemerkung, den Menschen in Nigeria werde „ein Stück ihrer kulturellen Identität zurückgegeben“. Es handele sich um einen „historischen Moment“. „Wir wollen lernen aus der Auseinandersetzung mit unserer Kolonialgeschichte“, denn „das Erinnern an vergangenes Unrecht (sei) eine Verpflichtung für eine gerechtere Gegenwart“.
Abgesehen davon, dass Deutschland nie Kolonialmacht in Nigeria war, und abgesehen davon, dass die Benin-Bronzen vor gut 120 Jahren von den Briten nach England verbracht und anschließend teilweise an Interessenten aus anderen Ländern versteigert wurden, herrscht in Nigeria kein diesbezüglicher Mangel; das Land verfügt über mehrere Hundert Bronzen aus dem historischen Königreich Benin.
Und wenn es schon um historische Verantwortung geht, dann hätte vielleicht auch die Tatsache zur Sprache kommen können, dass das Königreich Benin tief in den afrikanischen Sklavenhandel verstrickt war. Vieles deutet sogar darauf hin, dass die Bronzen aus Armreifen hergestellt wurden, die das Königreich Benin für den Verkauf von Sklaven erhielt.
„Schwamm drüber“, mögen sich die beiden grünen Ministerinnen gedacht haben – falls sie denn überhaupt Interesse am historischen Hintergrund hatten.
„Gutes“ Erbe – „böses“ Erbe?
Mir geht es aber weniger um diese Fragwürdigkeiten hinter einer grünen Inszenierung in Afrika als vielmehr um das erstaunliche und höchst bemerkenswerte „Doppeldenken“ (George Orwell), welches unsere grünen Amtsträgerinnen bei dieser Gelegenheit offenbart haben.
Denn mit Blick auf Deutschland zeichnet sich grüne Politik vor allem durch eine radikale Absage an jegliches „kulturelles Erbe“ und an die historisch gewachsene „Identität“ unseres Landes aus:
• Da wird vor dem G7-Außenministertreffen im historischen Saal des Westfälischen Friedens zu Münster auf Betreiben von Baerbocks AA das Kreuz abgehängt.
• Da wird gefordert, das Kreuz auf dem Humboldt-Forum in Berlin zu entfernen und die Bibelsprüche an der Kuppel möglichst unleserlich zu machen.
• Da wird auf Betreiben Frau Baerbocks das „Bismarck-Zimmer“ im AA umbenannt und das Porträt des Reichsgründers entfernt.
• Da gibt es für Frau Roth offenbar keine dringlichere Aufgabe, als die „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ umzubenennen.
• Und da tobt allerorten ein grüner Furor, der im Sinne einer nachträglichen geschichtlichen „Säuberung“ die Umbenennung von Straßen und Plätzen in deutschen Städten verlangt.
Bevormundung durch ein links-grünes Milieu
Nun ließe sich einwenden, dass man das alles nicht übermäßig ernst nehmen müsse, zumal es sich bei den Grünen um eine Partei handelt, die bei den letzten Bundestagswahlen gerade einmal 14,8 Prozent der Stimmen erhalten hat.
Jedoch: Das Lob fremder Kulturen und die unablässige Diffamierung und Herabwürdigung des Eigenen – des kulturellen und geschichtlichen Erbes unseres Landes – ist nicht nur zu einem Markenzeichen der Grünen geworden, sondern findet vehement Unterstützung auch bei vielen anderen Ampel-Politikern und bei Journalisten, Professoren, „Kulturschaffenden“, Verbänden, Vereinigungen und diversen NGOs.
In Deutschland ist ein links-grünes Milieu entstanden, welches zunehmend die geistige, politische und kulturelle Hegemonie erobert hat. Es bestimmt inzwischen beileibe nicht nur über die Bewertung historischer Vorgänge, sondern beherrscht nahezu das gesamte öffentliche Leben. Der viel beschworene „gesellschaftliche Diskurs“ dreht sich um sich selbst und existiert in Wahrheit gar nicht, da er in seiner Einseitigkeit keinerlei Widerspruch mehr duldet.
Die Meinungsführerschaft dieses Milieus zeichnet sich vor allem durch Besserwisserei und Bevormundung aus. Wie aus dieser Sicht das „richtige“ Leben auszusehen hat, wird von der „Neuen Zürcher Zeitung“ wie folgt beschrieben: „klimaneutral, geschlechtergerecht, queer-tolerant, rassismussensibel, coronasolidarisch und in jeder Hinsicht gegen rechts. Wobei die Definition, was als ‚rechts‘ zu gelten hat, natürlich bei den Inhabern der Deutungshoheit liegt.“
Besserwisserei und Bevormundung korrespondieren dabei häufig mit regelrechter Verachtung für Menschen abseits der Großstädte, für Menschen, die morgens aufstehen und mit ihrer Arbeit, ihren Steuern und ihren Abgaben zum Gemeinwesen beitragen – und diese Geringschätzung wird nicht selten ausgerechnet von Leuten artikuliert, die ohne Berufsausbildung, ohne Studienabschluss und ohne jede nennenswerte Erwerbstätigkeit jenseits der Politik sind, aber dafür umso besser wissen, was gut und richtig ist für die Zukunft Deutschlands.
Medien – kaum Kritik, dafür reichlich Propaganda
Die Situation wird nicht erträglicher dadurch, dass sich die hiesigen Medien überwiegend in eine Rolle begeben haben, die mit der klassischen „vierten Macht“ kaum noch etwas zu tun hat. Während sich die Presse in freiheitlichen Staaten traditionell zuvörderst als kritischer Kontrolleur der Regierung versteht, zeigt sich hierzulande ein ganz anderes Bild. Unsere Medien, vorneweg das öffentlich-rechtliche System - also der mit über acht Milliarden Euro aus unseren Gebühren finanzierte, teuerste Rundfunk der Welt – , betätigen sich weniger als Kritiker, sondern vielmehr als Unterstützer, unentwegte Antreiber und Propagandisten der herrschenden grün-roten Politik: noch grüner, noch „diverser“, noch mehr „Gendern“, noch „anti-rassistischer“, noch „anti-kolonialistischer“, noch „woker“, noch „klimasensibler“ und noch migrationsfreundlicher als selbst die Wortführer der Ampel.
Politik des Ausverkaufs
Vieles in der deutschen Politik erinnert mittlerweile an die Ausverkaufswerbung im Handel: „Alles muss raus!“ - Die Familien sollen durch eine „Verantwortungsgemeinschaft“ ersetzt werden; kleine Kinder sollen verstärkt über „sexuelle Vielfalt“ belehrt werden; schon Jugendliche sollen künftig jährlich ihr Geschlecht wechseln können; und der Begriff „Heimat“ ist bereits höchst verdächtig und deutet mindestens auf „Rechtspopulismus“, wenn nicht gar auf noch schlimmeres hin.
Die eigene Kultur, das eigene Volk, die eigene Geschichte, die Leistungen unserer Vorfahren, das alles gilt zunächst erst einmal als anrüchig und muss vor allem „kritisch hinterfragt“ werden. Zur Vernachlässigung und Verachtung der Zeugnisse unserer Vergangenheit gehört im Umkehrschluss die mehr oder minder unkritische Verherrlichung außereuropäischer Kulturen, ein „Erbe“, dem wir Respekt und Wertschätzung schulden (womit wir wieder bei den eingangs beispielhaft erwähnten Benin-Bronzen angekommen sind).
Am Ende laufen diese Tendenzen auf eine permanente Selbstgeißelung Deutschlands und Europas hinaus – mit dem wichtigen Nebeneffekt, dass sie der weiteren unkontrollierten Zuwanderung sowie der Akzeptanz und der „Integration“ von Menschen dienen, die aus fernen Ländern und fremden Kulturen nach Europa streben.
Dabei verstehen viele Bürgerinnen und Bürger nicht mehr, warum unsere Loyalität nicht zuerst dem eigenen Land und dem Schicksal seiner Bewohner, sondern der „ganzen Welt“ gelten soll – den unterentwickelten Ländern in Afrika und anderswo, der „Rettung des Weltklimas“ und der „globalen sozialen Gerechtigkeit“.
Dramatischer Vertrauensverlust in die staatlichen Institutionen
Aus zahlreichen Begegnungen mit Menschen jeden Alters und verschiedenster Berufsgruppen habe ich in den vergangenen Monaten den Eindruck gewonnen, dass dieser ständige Appell, als weltweites „Vorbild“ bei allen möglichen moralisch begründeten Forderungen „voranzugehen“, auf Unverständnis und wachsende Ablehnung stößt.
Hier tut sich inzwischen eine gefährliche Kluft auf zwischen der Welt, wie sie in links-grünen Medien abgebildet wird, und der Welt, die eine Mehrheit nach wie vor als ihr zu Hause begreift. Diese Menschen wollen vor allem ihr ganz normales Leben führen, ihrer Arbeit nachgehen, für ihre Familien sorgen und ihre Freizeit nach eigenen Wünschen gestalten.
Sie sind der ewigen Moralappelle, der immer neuen Postulate und der permanenten Unterweisung im „richtigen“ Denken müde. Gerade in Zeiten äußerer Unsicherheit und Bedrohung, in Zeiten rekordverdächtiger Inflation, drohender Wohlstandsverluste und einer ungewissen wirtschaftlichen Zukunft leistet die wachsende Kluft zwischen den Meinungsmachern in Politik und Medien auf der einen und den normalen Menschen mit ihren alltäglichen Sorgen, Nöten und Hoffnungen auf der anderen Seite gefährlichen Tendenzen Vorschub.
Immer mehr Bürger fühlen sich gegängelt und sehen die Redefreiheit in Gefahr. In ihren Augen verstehen sich führende Politiker als Weltenretter, aber nicht als Interessenvertreter der eigenen Wählerschaft. Für alles andere sei Empathie und Geld vorhanden, heißt es da, nur nicht für diejenigen, die treu und brav den Laden am Laufen hielten. Für diese Menschen habe die Politik keine Achtung und keine Wertschätzung, sondern nur immer neue Ermahnungen parat. Der Staat sei offenbar nicht mehr für den Bürger da, sondern der Bürger für den Staat, damit dessen Akteure sich daheim und in der Welt mit hochfliegenden Plänen wichtig tun könnten.
Die Entfremdung vieler Menschen von der Politik geht inzwischen so weit, dass tragende Säulen unserer staatlichen Ordnung infrage gestellt werden. Und, was noch schlimmer ist: das grundlegende Vertrauen in die Demokratie erodiert:
• Es muss uns doch zu denken geben, dass seriösen Umfragen zufolge eine Mehrheit der Deutschen inzwischen das Gefühl hat, nicht mehr frei sprechen zu können!
• Es muss uns doch zu denken geben, dass das Vertrauen in sämtliche politischen Institutionen unseres Landes – und in seine Repräsentanten – auf einen dramatischen Tiefpunkt gesunken ist!
• Und es muss uns doch zu denken geben, dass immer weniger Menschen überhaupt noch zur Wahl gehen. Bei jüngsten Landtagswahlen ist fast jeder Zweite daheim geblieben, und im kommunalen Bereich sieht es vielerorts noch trauriger aus!
Besinnung auf die Kernaufgaben des Staates
Die bürgerliche, freiheitliche und demokratische Mitte braucht dringend Orientierung! Wir dürfen uns von einer lauten Minderheit nicht länger vorschreiben lassen, wie die Regeln des Zusammenlebens definiert werden. Wir brauchen gegen die Spaltung der Gesellschaft eine offene Diskussionskultur!
Wir dürfen das Feld nicht länger sektiererischen Minderheiten überlassen. Wir müssen Achtung und Respekt für ganz normale Menschen einfordern, die täglich für ihren Wohlstand und die Zukunft ihrer Angehörigen kämpfen. Sonst wird womöglich eine Zeit kommen, in der angesichts des Scheiterns einer rot-grünen Blase das Pendel mit Wucht in eine ganz andere Richtung ausschlägt, was niemand wollen kann, der es gut meint mit Deutschland.
Statt immer neuer Eingriffe in den Kern des Privaten, statt permanenter Überforderung eines rasch alternden Landes, das gerade noch ein Prozent (!) der Weltbevölkerung ausmacht, statt mit Hyper-Moral aufgeladenem „Gesellschaftsumbau“ und „Transformation“ aller Lebensbereiche muss eine Rückbesinnung auf die klassischen Aufgaben des Staates erfolgen:
Äußere und innere Sicherheit, individuelle Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, gute Bildung, intakte Infrastruktur, günstige Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Arbeitsplätze, hochwertige Gesundheitsversorgung und gute Pflege im Alter.
Und nicht zu vergessen: wir sollten mit aller Kraft der gezielten Verächtlichmachung unserer Kultur entgegentreten, die jahrhundertelang durch Erfindergeist, durch wissenschaftliche Entdeckungen und technische Innovationen, durch Kunst, Musik, Philosophie und Literatur von Weltgeltung die Menschheit bereichert hat.